Donnerstag, 25. Juni 2015

Iemanja - Alternatives Ende

Bevor mein Buch "Iemanja" veröffentlicht wurde, hatte ich auch ein alternatives Ende verfasst, ein Happy End... da meiner Lektorin das traurige dann doch besser gefiel (!?), blieb es bei dem originalen Schluss, der nun im Buch vorzufinden ist. Persönlich finde ich aber auch dieses hier schön, und wollte es einmal hier teilen :)




Sie fühlte die vollkommene Befreiung, die ich ihr geschenkt hatte. Bevor ich auf das Boot gekommen war, in dieser lang vergangenen, vergessenen Zeitrechnung, was sie langsam, ohne es sich selbst einzugestehen, immer kleiner und fremder geworden, sie hatte sich selbst an der Einsamkeit erwürgt, die jeden Tag drohte, sie umzubringen. Alles war so schwer gewesen -- als würde der Himmel und die ganze Welt auf ihr lasten, Luft war keine Luft mehr, sondern schwer und erdrückend wie Blei, die Wolken drohten auf sie herabzustürzen, und die Sonne schien sich zu erweitern und alles zu verschlingen. Die Einsamkeit hatte sie grausam langsam aufgefressen, in ihrer Seele gefault, und ihren Körper angesteckt. Doch als ich sie das erste Mal berührt hatte, war für eine, diese Sekunde das schwere Gewicht von ihren Schultern verschwunden, sie fühlte, wie sie das erste Mal nach langer Zeit richtig atmen konnte, und sich frei bewegen. Mit der Zeit, die sie an meiner Seite verbracht hatte, und den unzähligen Berührungen, die folgten, hatte ich ihr immer mehr abgenommen, sie war größer und größer geworden, und hatte sich wieder aufgerichtet. Ich hatte ihr ihre alte Freiheit wieder gegeben, die der Heimat, die der Felder und Wiesen, sie fühlte sich frei, um zu fliegen.

Plötzlich wurde ihr klar, dass das Boot zu klein für sie war, es schränkte sie ein und hielt sie wie eine Gefangene auf offener See. Die Zeit, in der es Sinnbild für Endlosigkeit und Freiheit gewesen war, war vorüber. Denn was war Freiheit wirklich? Freiheit bedeutete, das zu tun und zu lassen, was man wollte, ohne Schranken auferlegt zu bekommen, weder von jemand anderem, noch von sich selbst. Sie konnte ihre eigenen Regeln brechen, wenn sie es so wollte. Es war ganz einfach. Sie ging an den Steg, und ohne nachzudenken, ohne sich von ihrer alten Sehnsucht zu verabschieden, schritt sie langsam von Seil zu Seil, band eines nach dem anderen los, bis das Boot lose vor ihr im Hafen lag. Es bewegte sich nicht, ruhte unschlüssig im Wasser, ähnlich einem Tier, dem man nach jahrelanger Zähmung plötzlich die Freiheit schenkte. Es kam ihr vor, als würde es sie fragend ansehen. Doch die nächste Welle, der nächste Windstoß, würden es wegtreiben lassen von hier, auf zu unbekannten Gewässern und neuen Abenteuern. Es war ihr gleich, was mit ihm geschehen würde, sie fühlte, dass sie schon damit abgeschlossen hatte, mit dem Boot, und ihrem alten Leben, sie hatte es bereits hinter sich gelassen. Wann genau war der Moment gewesen, in dem sich ihr Dasein am Wasser nur mehr wie Vergangenheit angefühlt hatte, in dem sie gewusst hatte, dass sie der Gegenwart entgegenrennen musste? Hatte sie insgeheim schon zusammen mit mir Abschied vom Meer genommen, in unseren letzten gemeinsamen Tagen und Wochen -- oder war es ein spontanes Gefühl gewesen, jetzt, da ich fort war, und sie ihre Einsamkeit auf dem Boot so vor sich sah, wie sie war, erkannte, dass ich ihr das Alleinsein abgewöhnt hatte? Sie wusste, was sie als nächstes tun würde. Für einen bewussten Moment blieb sie noch stehen, atmete einen tiefen Zug dieser Luft hier ein, die noch so roch wie die Luft, die sie jahrelang gerochen hatte. Dann rannte sie los, rannte, bis sie wusste, dass ich sie hören konnte, und flog mir die letzten Meter entgegen. Abrupt blieb sie hinter mir stehen, tippte mir an die Schulter, weil ich mich noch immer nicht umgedreht hatte, und ich wendete ihr mein Gesicht zu. Als ich sie ansah, lächelte ich, als wäre ich nicht überrascht.

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