Donnerstag, 19. Januar 2012

Regen

aus den verschiedensten richtungen tönt der forsche aufprall des regens. dumpfe und klare, hohe und tiefe, sanfte und schrille aufschläge auf asphalt, wasserlachen, dachplatten, wiesenböden, gestampfte erde, grün belaubte, raschelnde zweige, sickergruben, plastikfässer, holzstämme, holzverdeck. der wind, der gleichzeitig beruhigend und beunruhigend durch die luft pfeift und dabei wagemutigen schwalben ungewohnten schwung verleiht, zwingt dem regen sein geometriedreieck auf und lässt ihn im spitzen winkel seiner normalen geraden fallen. die schweren wassertropfen landen in platschenden kleinen kronen im dreckigen bächlein des angesammelten regens, flackern dabei so schnell, kurzlebig und unwirklich auf wie irrlichter, und dem flachen see entsteigt ebenso rasch wolkiger nebel, der sogleich verpufft im tropfenspiel und einen an körper verlassende seelen denken lässt.


Ein heftier Sommerregen, irgendwann einmal genauer beobachtet worden von mir...
Ich hab mir gedacht, dass das heute ganz gut passt :-)

Montag, 2. Januar 2012

Der fehlende Teil

Eine kleine Geschichte, dir mir einmal so eingefallen ist, als ich mit meinem Computer beim kleinen Tisch mit dem Bücherregal gesessen bin...


Der fehlende Teil

Ich konnte mich nicht zwischen zwei Exemplaren des selben Buchs entscheiden. Beide zu kaufen kam nicht in Frage, das würde nur dazu führen, dass ich eines Tages, wenn ich das Buch lesen würde wollen, wieder ratlos vor dem Bücherregal stehen und die beiden ewig gegeneinander abwiegen würde. Das brachte nichts. Ich musste mich jetzt entscheiden. Die zwei Bücher lagen vor mir, beide waren gebunden und sie sahen von außen völlig gleich aus. Das heißt, beinahe, denn das eine Buch war noch in den Papierumschlag gewickelt, während das andere seinen Schutz irgendwann verloren hatte. Sie waren vom selben Verlag und der selben Druckerei, und ein Blick auf die Innenseite verriet, dass eines der Bücher um sieben Ausgaben jünger als das andere war. Das war das Buch ohne Umschlag. Es war insgesamt in einer besseren Verfassung – obwohl es der Welt schutzlos ausgeliefert gewesen war. Das Buch mit dem Umschlag war, nachdem ich es ausgewickelt hatte, leicht fleckig, matt und abgewetzt. Der Schriftzug am Rücken des nackten Buchs glänzte in Gold, doch die Buchstaben des älteren Buchs, die verdeckt und geschützt gewesen waren, hatten ihre Leuchtkraft verloren. Doch der Umschlag war schön. Auch wenn er eingerissen und abgegriffen war. Ich stellte mir vor, welches der Bücher auf meinem Nachttisch besser aussehen würde, das mit dem Umschlag oder das ohne? Welches Buch würde mich attraktiver machen, wenn ich es im Bus lesen würde? Welches Buch würde aussagen, dass ich eine interessante Person bin, die ein Faible für alte Bücher und anspruchsvolle Literatur hat? Ich musste zugeben, dass das nackte Buch unaufdringlicher wirkte. Man konnte Autor und Buchtitel nicht sofort erkennen, sondern würde nahe an mich herangehen müssen. Das eingeschlagene Buch hingegen warf einem den Titel in einem kontrastierenden, leuchtenden Gelb entgegen. Hier bin ich und das ist das Buch, das ich lese. Das ist eigentlich nicht mein Stil. Andererseits könnte es aber mein Stil werden. Ich sollte sowieso mehr aus mir herausgehen, da wäre so ein auffälliges Buch ein Schritt in die richtige Richtung. Jedoch war dieses Buch vielleicht nicht genau das Richtige dafür. Ich konnte nicht völlig für den Buchtitel gerade stehen. Der erfahrene Leser wird bestimmt wissen, dass sich dahinter ein Stück ehrenwerte Literatur verbirgt, doch weniger belesene Menschen werden sich ihren Teil dazu denken und mich mitsamt meiner Lektüre in ein gewisses Eck abstellen. Also wäre ich wohl doch mit dem diskreten Buchdeckel besser beschieden. Neben mir spürte ich plötzlich Ungeduld. Jemand hatte anscheinend etwas dagegen einzuwenden, dass ich beide Bücher in meinen vorübergehenden Besitz gebracht hatte. „Darf ich?“ Die Stimme war nicht freundlich. Zwei Hände griffen zögerlich nach den Büchern und zogen sie etwas von mir weg. Nicht zu weit, meine Beanspruchung wurde doch respektiert. Die Bücher wurden begutachtet, aufgeschlagen, beschnuppert, befühlt. Darauf war ich noch gar nicht gekommen. Die Person sah wie jemand aus, der es gar nicht nötig hatte, mit einem Buch als Accessoire zu punkten. Ich wollte wissen, ob sie die Entscheidung nach den selben Kriterien wie ich anlegte. Musste sie jemanden damit beeindrucken? War das Buch als Geschenk gedacht? Oder hatten der Autor und der Roman nicht die selbe Bedeutung für sie wie für mich, sondern war dieses Buch nur ein belangloses Fundstück, das zuhause als Tischbeinstütze dienen würde? Die Person räusperte sich. „Haben Sie bemerkt, dass bei dem hier die letzten paar Seiten fehlen?“ Es war sehr fair von ihr, mich darauf aufmerksam zu machen, anstatt einfach selbst das vollständige Buch zu nehmen und mich mit dem anderen zurückzulassen. Wir verglichen die Enden der beiden Bücher. Der Unterschied war nicht grassierend. Auf den letzten Seiten – das konnte man am vollständigen Buch erkennen – standen nur Inserate für weitere Bücher des selben Autors, Bücher, die ich, wie ich bemerkte, sogar schon gelesen hatte. Und es fehlte eine Seite des Romans. Glücklicherweise waren es nur zwei Sätze, die mit dem fehlenden Blatt verloren gegangen waren. Wir starrten auf diese zwei Sätze und waren beide traurig darüber, das Ende schon jetzt gesehen zu haben. Fast hatte ich die Lust verloren, das Buch überhaupt zu kaufen. Aber dadurch waren wir plötzlich miteinander verbunden. Wann auch immer einer von uns dieses Buch lesen würde, wir würden beide das Ende kennen, auch wenn wir das Buch hatten, dem es fehlte. Wenn mein Buch das Unvollständige war, würde ich an das Ende im Bücherregal dieser Person denken. Wenn mein Buch das Komplette war, würde ich den Wunsch verspüren, die Person anzurufen und sie an das Ende zu erinnern. Wie konnten diese Seiten überhaupt verloren gehen? Ich stellte mir verschiedene Szenarien vor. Plötzlich traf es mich wie ein Schlag – diese letzten beiden Sätze waren wie ein Sinnspruch, ein Lebensmotto, sie hingen an jemandes Mauer oder Spiegel oder Pinnwand, um diesen Jemand täglich daran zu erinnern. So bedeutend waren sie, und umso tragischer erschien mir ihre Abwesenheit in dem verstümmelten Buch. Aber diese zwei Sätze hatten sich nun so gut in mein Gedächtnis eingebrannt, dass es wiederum irrelevant wurde, ob ich sie besaß oder nicht. Wir warteten. Hieß das, dass wir uns gemeinsam entscheiden würden, oder wartete die Person darauf, dass ich etwas sagte? Jemand kam, und jeder von uns griff automatisch nach einem unser zwei Bücher. Wir brauchten niemand Dritten, diese Entscheidung musste zwischen uns beiden ausgetragen werden. Ich hatte erwartet, dass die Aufteilung der Bücher nur vorübergehend war, aber die Person drehte mir plötzlich den Rücken zu und verließ den Büchertisch. Die Entscheidung war mir abgenommen worden. Ich war traurig und enttäuscht, so von dieser Person hintergangen worden zu sein. Ich ließ das Buch achtlos liegen und ging einmal rund um den Tisch, aber als ich wieder zurückkam, war es noch immer da. Schließlich schlug ich das Buch in der Mitte auf, und es klappte von selbst auf die letzte Seite. Ich sah, dass es das Buch mit den fehlenden Seiten war. Mir war nach Heulen zumute, aber stattdessen schlug ich die Buchdeckel wieder zu, steckte das Buch in meine Tasche und wusste, dass ich es nie lesen würde. Die beiden fehlenden Sätze verfolgten mich. Ich sah mir alte Möbel und Waschbecken und Klomuscheln an, und die Sätze hallten in mir wider. Ich wühlte mich durch getragene Pullover und Strickwesten, sah auf Etiketten und erwartete, dort die Sätze zu lesen. Ich sah Boxen mit Notenblättern und Schallplatten durch und hoffte innig, die vermissten Buchseiten wären versehentlich dazwischen geraten. Plötzlich fand ich etwas, das noch schöner war als mein Buch. Eine Platte. Eine Platte ohne jeglichen Mangel. Die Hülle war liebevoll gealtert, das Preisetikett leicht ablösbar, die Platte eine satt-schwarze Scheibe ohne Kratzer. Ich jubilierte. Und wusste plötzlich, dass ich die fehlenden Sätze einfach dazuschreiben konnte, so einfach war das. Mein Buch hatte dann eine persönliche Note. Alles war gar nicht so schlimm wie anfangs vermutet. „Haben Sie einen Stift?“, fragte ich den Verkäufer. Er sah in seinen Sachen nach. „Geht ein Kugelschreiber?“, fragte er leicht misstrauisch, als hätte ich vor, auf seinen Platten herum zu kritzeln, ohne sie nachher bezahlen zu wollen. „Ja, okay.“ Ich schlug das Buch auf und schrieb diese zwei Sätze hinein, schrieb sie ganz für mich allein, und sie wurden zu meinem eigenen Sinnspruch, während ich sie schrieb. Wie bedeutungslos sie wären, wenn sie bloß die letzte Seite eines Buchs wären, ich beneidete die andere Person nicht mehr, sondern freute mich jetzt über meinen geheimen Sieg. Und wie schön das Buch war. Ich würde mich ins Kaffeehaus setzen und einen möglichst außergewöhnlichen Kaffee bestellen, mich zurücklehnen, und das Buch für sich sprechen lassen. Von dieser Vorstellung beflügelt, schlenderte ich noch einmal durch den Flohmarkt. Alles schien plötzlich so leicht und harmonisch, ich freute mich für die Menschen, die sich schöne Dinge kauften, für die Dinge, die von Menschen gefunden und heim gebracht wurden, für die Verkäufer, die ihre Schätze an den Mann brachten. Plötzlich fiel mir wieder ein, dass ich das Buch gestohlen hatte. Jemand tippte mich von hinten an die Schulter. Ich zuckte zusammen und konnte das schwere Gewicht des Buchs durch die Tasche spüren. Würde man mir mein Buch, meinen Lebenssinn, wieder wegnehmen? Oder würde der Verkäufer einsehen, dass es jetzt unabdingbar mit mir verbunden war? Es war die Person mit dem anderen Buch. „Entschuldigung?“ „Ja?“, sagte ich. Die Person zog umständlich etwas aus ihrem raschelnden Plastiksack. Zuerst dachte ich, es sei das Buch. Aber es war nur der Papierumschlag. „Sie können ihn haben, wenn Sie wollen. Ich bin vorhin einfach damit abgehauen. Tut mir leid.“ Plötzlich liebte ich diese Person. Ich nahm den Umschlag an. Die Person drückte mir die Hand, lächelte mich an, und ließ los, bevor ich etwas sagen konnte. Sie blieb einen Moment stehen, drehte sich dann aber um und verließ den Raum. Ich stand da und dachte alle Gedanken über mich und mein Buch neu, jetzt, wo es einen Umschlag bekommen hatte. Ich hatte plötzlich keine Angst mehr, als Diebin entlarvt zu werden, nahm mein nacktes Buch aus der Tasche und breitete den Umschlag aus, um das Buch hinein zu legen. In einer Ecke der blanken Innenseite stand mit Bleistift eine Telefonnummer geschrieben. Es war eine wirklich schöne Nummer.